Mittwoch, 8. Dezember 2010

Die verlogene Republik

Artikel von Ulrich Rippert auf www.wsws.org (04.11.2010)

Der Bericht der Historikerkommission über die Geschichte des Auswärtigen Amtes (AA) in der Zeit des Nationalsozialismus hat großes Aufsehen erregt. Auf knapp 900 Seiten weisen die Historiker Eckart Conze, Norbert Frei, Moshe Zimmermann (Israel) und Peter Hayes (USA) nach, wie stark das Außenministerium in die Verbrechen der Nazi-Diktatur involviert war.
Die umfangreiche und sorgfältige Dokumentation lässt keinen Zweifel daran, dass die führenden Mitarbeiter des Außenamts über die Kriegs- und Vernichtungspolitik der Nazis nicht nur informiert, sondern unmittelbar daran beteiligt waren. So befand sich zum Beispiel ein Vertreter des AA unter den 15 hochrangigen Funktionären der NS-Reichsbehörden und Parteidienststellen, die sich im Januar 1942 zur Wannseekonferenz versammelten, um unter Leitung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich die „Endlösung“ der Judenfrage, das heißt den begonnenen Holocaust an den Juden im Detail zu organisieren. In der Folge wurden Transporte in die Vernichtungslager im Außenamt abgezeichnet und organisiert.
Viele Kriegsverbrecher im diplomatischen Dienst konnten nach Kriegsende ihre Karriere im Auswärtigen Amt fortsetzen. Sie verbreiteten systematisch die Legende, die formale Anpassung an die Nazi-Diktatur sei nur der Deckmantel für aktiven Widerstand gegen die Hitler-Diktatur gewesen sei. Diese Lüge wurde 65 Jahre lang aufrecht erhalten.
Entgegen allen damals bereits bekannten Fakten wurden das Nachkriegs-Westdeutschland und die Gründung der Bundesrepublik als demokratischer Neuanfang dargestellt. Bis heute wird versucht, die Rolle der Altnazi-Seilschaften nicht nur im Außenministerium, sondern auf vielen Ebenen der Politik, Wirtschaft und Justiz zu verheimlichen und zu beschönigen.
Ein gutes Beispiel dafür ist Richard von Weizsäcker. Der heute neunzigjährige Weizsäcker war von 1984 bis 1994 sechster Präsident der Bundesrepublik. Er begann seine politische Karriere als Verteidiger seines Vaters Ernst Freiherr von Weizsäcker, der als Kriegsverbrecher in den Nürnberger Prozessen angeklagt war und verurteilt wurde. Selbst nach der Veröffentlichung des Berichts der Historikerkommission verteidigt Richard von Weizsäcker seinen Vater und rechtfertigt sein Verhalten.


Fakt ist: Vater Ernst von Weizsäcker war im April 1938 der NSDAP beigetreten und im gleichen Monat zum SS-Oberführer im persönlichen Stab von Heinrich Himmler (Reichsführer-SS) ernannt worden. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Weizsäcker die Leitung der Politischen Abteilung des Außenamts übertragen bekommen. Vermutlich auf Wunsch Hitlers wurde er 1937 Ministerialdirektor und 1938 erster Staatssekretär des AA. Damit war er nach Außenminister Ribbentrop der zweitwichtigste Mann. In dieser Funktion war er maßgeblich an der Ausarbeitung des Münchner Abkommens beteiligt, was er später damit rechtfertigen sollte, er habe auf diese Weise den Frieden erhalten wollen.
Weizsäcker spielte auch eine Rolle bei der Deportation von Juden, was der Bericht der Historikerkommission erneut bestätigt. Bei Deportationen aus besetzten oder verbündeten Staaten musste das AA seine Zustimmung geben, was es in der Regel auch tat. So äußerste Weizsäcker „keinen Einspruch“, als Adolf Eichmann 1942 6.000 Juden aus Paris nach Auschwitz transportieren wollte. Auch einen Erlass zur Deportation von 90.000 Juden aus Belgien, Holland und Frankreich zeichnete er ab.
Trotz dieser Tatsachen verteidigt der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Verhalten und Vorgehen seines Vaters und behauptet, er habe sich dem Amt nur zur Verfügung gestellt, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern.
Was davon zu halten ist, zeigt der Werdegang von Sohn Richard, der nach Kriegsbeginn trotz seiner Jugend in der Wehrmacht eine Blitzkarriere absolvierte und im Alter von nur 22 Jahren zum Ordonnanzoffizier beim Oberkommando des Heeres aufstieg.
Auch die Behauptung, sein Vater habe dem Naziregime abweisend gegenübergestanden, ist unwahr. Die Historikerkommission zitiert persönliche Aufzeichnungen, die Ernst von Weizsäcker unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme im Februar 1933 verfasste. Darin heißt es: „Unsereiner muss die neue Ära stützen. Denn was käme denn nach ihr, wenn sie versagte! Natürlich muss man auch mit Erfahrung, Auslandskenntnis und allgemeiner Lebensweisheit beiseite stehen. Hierzu bin ich entschlossen...“
Die Kommission kommentiert dies mit den Worten: „Weizsäckers Ausführungen spiegeln die Gedanken und Wünsche der Spitzendiplomaten nachgerade exemplarisch wider: Das liberaldemokratische System, das sie geschlossen ablehnten, sollte durch eine autoritäre Staatsform ersetzt werden, ein Ziel, das der Reichspräsident ‚Projekt der nationalen Erneuerung und Einigung‘ nannte.“
Das ist sehr aufschlussreich. Es macht deutlich, warum Richard von Weizsäcker als ehemaliger Bundespräsident entgegen aller Aussagen des Kommissionsberichts an den alten Lügen über das Außenamt als Hort des Widerstands gegen die Naziherrschaft fest hält. Es geht dabei nicht in erster Linie um die Verteidigung der Familienehre. Die Lüge, die gesellschaftlichen Eliten hätten das Nazi-Regime und seinen Terror abgelehnt, erfüllt eine politische Funktion. Mit ihr wurde gerechtfertigt, dass dieselben Leute nach der angeblichen „Stunde Null“ den geläuterten demokratischen Rechtsstaat aufbauten.


 Die Familie Weizsäcker ist geradezu exemplarisch für die Kontinuität der politischen Eliten über die unterschiedlichsten politischen Systeme hinweg. Die aus dem Bildungsbürgertum stammende, 1916 geadelte Familie hat in drei aufeinanderfolgenden Generationen dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, der Nazi-Diktatur und der Bundesrepublik in höchsten Staatsämtern gedient. Karl von Weizsäcker, der Vater Ernsts und Großvater Richards, war von 1906 bis 1918 Ministerpräsident des Königs von Württemberg.
Hinzu kommt noch ein zweiter Gesichtspunkt. Der Bericht der Historikerkommission macht deutlich, dass die führenden Beamten des Außenministeriums trotz ihres Standesdünkels eng mit dem Naziregime zusammenarbeiteten, weil sie mit seinen politischen Zielen übereinstimmten. Die Motive der Angehörigen des Auswärtigen Amts reichten „über Hoffnungen auf einen autoritär gestützten machtpolitischen Wiederaufstieg Deutschlands bis hin zur Übereinstimmung mit den Prämissen der nationalsozialistischen Politik: von der Demokratiefeindschaft bis zum Antisemitismus“, heißt es in der Einleitung des Historikerberichts.
Das aber bedeutet, dass die Politik der NSDAP-Führung nicht von einem Wahnsinnigen namens Adolf Hitler bestimmt wurde, sondern von den politischen Zielen und Interessen des deutschen Imperialismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Die aggressiven Ziele der faschistischen Politik waren die Fortsetzung der Eroberungspolitik des deutschen Kapitalismus, wie Leo Trotzki schon 1932 erklärte.
Die Historikerkommission hat die Mythen über Widerstand im deutschen Außenamt widerlegt und damit dem Lügengebäude über einen angeblich grundlegenden demokratischen Neubeginn nach 1945 einen wichtigen Eckpfeiler entzogen. Nun ist es notwendig, der herrschenden Elite und ihren von Weizsäckers, von und zu Guttenbergs (samt Gemahlin Stephanie, geborene Gräfin von Bismarck-Schönhausen) usw. entgegenzutreten, die bereits wieder über die Vorzüge autoritärer Herrschaftsformen nachdenken.

Freitag, 1. Oktober 2010

Augen aus Auschwitz

Die Max-Planck-Gesellschaft und die mörderische Vergangenheit: Personelle Verflechtungen zeigen, wie stark Wissenschaftler der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an NS-Verbrechen beteiligt waren.

Artikel von Ernst Klee aus "Die Zeit" Ausgabe 05/2000

Juli 1945. Aussage des ehemaligen Häftlings Dr. med. Miklós Nyiszli vor einer Kommission zur Fürsorge deportierter ungarischer Juden: Er sei Gehilfe eines Dr. Mengele gewesen, habe Menschen vermessen, die getötet wurden, ihre Leichen geätzt, in Pakete gepackt und "dem anthropologischen Institut in Berlin-Dahlem" geschickt.


März 1946. Nyiszli sitzt am Vorwort zu seinem Buch Jenseits der Menschlichkeit - ein Gerichtsmediziner in Auschwitz (seltsamerweise wurde es erst 1992 ins Deutsche übersetzt). Ungezählte Protokolle, berichtet Mengeles Sklavenarzt, habe er mit seiner Häftlingsnummer unterschrieben: "Anschließend wurden diese Dokumente von dem mir vorgesetzten SS-Arzt Dr. Mengele signiert und gelangten mit der Post an folgende Adresse: ,Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, Berlin-Dahlem'." Das Kaiser-Wilhelm-Institut unterstand zu dieser Zeit dem Zwillingsforscher Otmar Freiherr von Verschuer.


3. Mai 1946. Die Neue Zeitung in München meldet, der Rassenfanatiker Verschuer habe von seinem Oberassistenten Mengele in regelmäßigen Abständen Blutproben und Augenpaare von "Zigeunern" aus Auschwitz bekommen.

10. Mai 1946. Verschuer verfasst eine eidesstattliche Erklärung über Mengele: "Von seiner Arbeit ist uns nur bekannt geworden, dass er sich bemüht hat, den Kranken ein Arzt und Helfer zu sein." Eine von vielen Lügen. Zwei Jahre zuvor, im März 1944, hatte Verschuer der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter dem Kennwort "Spezifische Eiweißkörper" berichtet: "Als Mitarbeiter in diesem Forschungszweig ist mein Assistent Dr. med. et Dr. phil. Mengele eingetreten. Er ist als Hauptsturmführer und Lagerarzt im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt. Mit Genehmigung des Reichsführers SS werden anthropologische Untersuchungen an den verschiedensten Rassengruppen dieses Konzentrationslagers durchgeführt und die Blutproben zur Bearbeitung an mein Laboratorium geschickt." Verschuer im nächsten Bericht, Oktober 1944: "Die weitere Forschung wird zusammen mit Dr. Hillmann, Mitarbeiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biochemie, fortgeführt." Günther Hillmann ist Eiweißspezialist und Assistent des Biochemikers Adolf Butenandt.

Das 1927 in Berlin gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik ist die Wissenschaftszentrale des "Rassenhygiene" genannten Rassenwahns. Der NS-Staat braucht das Institut: zur Schulung von Ärzten und Funktionären bei der Ausmerzung angeblich Erbkranker. Zur gutachterlichen Unterscheidung von Juden und Ariern. Zur Legitimierung der Rassenpolitik.

Am KWI promovieren Leute wie der "Zigeunerforscher" Adolf Würth ("Die rassenbiologische Zigeunerforschung ist die unbedingte Voraussetzung für eine endgültige Lösung der Zigeunerfrage"). Am KWI werden Ärzte geschult wie Georg Renno, später Vergasungsarzt in der Euthanasie-Anstalt Hartheim bei Linz (nach 1945 Pharmavertreter bei Schering unter falschem und auch richtigem Namen). Am KWI amtieren Abteilungsleiter wie der Rassenhygieniker Fritz Lenz, der sich schon 1931 gelobt hatte, dass sein Werk "zur Vorbereitung der nationalsozialistischen Weltanschauung beigetragen" habe (nach 1945 Direktor des Instituts für menschliche Erblehre der Universität Göttingen).

Vorgänger Verschuers und Leiter des Instituts bis 1942 ist der 1874 geborene Rassenforscher Eugen Fischer ("Die erblich Kranken und rassenmäßig in unser Volk nicht Passenden müssen ausgemerzt werden"). Fischer dankt Hitler nach den Nürnberger Rassengesetzen, dass er "den Erbforschern ermöglicht habe, ihre Forschungsergebnisse dem Volksganzen praktisch dienstbar zu machen".

Sein Schüler Verschuer rühmt Hitler ebenso und meint 1941: "Die politische Forderung der Gegenwart ist eine neue Gesamtlösung des Judenproblems."


Ehrenerklärungen der Nachkriegszeit heißen nach einem Waschmittel "Persilscheine", weil braune Vergangenheit weiß gewaschen wird. Zur historischen Wahrheit tragen sie natürlich nicht bei, aber sie dokumentieren, wer für wen lügt oder schönt. Am 19. September 1949 treffen sich in Stuttgart Verschuers Freund und Gönner Butenandt, Max Hartmann (KWI für Biologie), Boris Rajewsky (KWI für Biophysik) und der Pharmakologe Wolfgang Heubner, der im Juni 1944 Berater bei geplanten Versuchen an "Zigeunern" im KZ Dachau war.

Die vier Professoren bescheinigen Verschuer "eine gegnerische innere Haltung" und bezeichnen Mengele feinsinnig als "Lazarettarzt" - Lazarettarzt in Auschwitz-Birkenau.

Lieferschein von Mengele - Kopf eines 12-jährigen Kindes

Warum wusch Adolf Butenandt den KZ-Arzt Mengele rein?

Nun waren aus Birkenau Augen von "Zigeunern" eingegangen. Im Persilschein liest sich das so: Mengele habe "die Augäpfel einer Zigeunerin, die seine Patientin" (!) gewesen und an Nierentuberkulose gestorben sei, ans Institut nach Dahlem gesandt. Danach seien noch drei Kinder "dieser Zigeunerin ums Leben" gekommen. Bei der ganzen Sache habe es sich lediglich um die Privatforschung der KWI-Assistentin Karin Magnussen gehandelt.

Die Formulierungskünste des Stuttgarter Dokuments gipfeln in dem Satz: "Wie weit Dr. Mengele selbst zu der infrage stehenden Zeit - nämlich während der Übersendung von Blutproben - über die Greuel und Morde in Auschwitz orientiert war, läßt sich aus den verfügbaren Unterlagen nicht erkennen." Ein raffinierter Satz: Wusste Mengele nichts, konnten Verschuer und Butenandt schon gar nichts gewusst haben. Verschuers Karriere ist gerettet: 1951 wird er Ordinarius und Leiter des Instituts für Humangenetik in Münster.

Was aber war wirklich zwischen Auschwitz und Berlin vorgegangen? Mengele hatte versucht, mittels Adrenalin die Augenfarbe von Häftlingen zu verändern.

Die nach Auschwitz verschleppte Anthropologin Martina Puzyna sollte 1944 eine Holzkiste zur Lagerpost bringen: "Ich öffnete die Kiste und stellte fest, daß sie Gläser enthielt, in denen sich herauspräparierte menschliche Augen befanden." SS-Oberscharführer Erich Mussfeld in einer Aussage 1947 vor dem Staatsanwalt in Krakau: "Bei der Sektion wurden die Augäpfel entfernt und als Ausstellungsstücke nach Berlin geschickt."

Ein Lehrstück über nationalsozialistischen Rassenwahn und medizinische Forschung - Der Fall Dr. Karin Magnussen

Der grausige Vorgang ist weder ein sadistischer Willkürakt Mengeles noch ein bizarrer Einfall der Biologin Magnussen. Die Sache hat einen wissenschaftlichen Hintergrund: Seit 1933 arbeitete der Zoologe Alfred Kühn (Direktor des KWI für Biologie) zusammen mit Adolf Butenandt an der Erforschung von Genwirkstoffen, der Einwirkung von Hormonen auf die Pigmententwicklung, speziell im Auge. Sie experimentierten an Taufliegen und Mehlmotten. Karin Magnussen, eine ehemalige Mitarbeiterin Kühns, beschäftigte sich ebenfalls mit der Einwirkung von Farbgenen und pharmakologisch wirksamen Stoffen auf die Augenfarbe.

Der Biochemiker Adolf Butenandt (1903 bis 1995) ist mit seiner Forschung über Sexualhormone berühmt geworden. Zumindest in der Anfangszeit (von 1929 an) kooperiert er mit dem Hormonexperten Carl Clauberg. Einen Teil der Arbeiten erledigt das Hauptlabor der Schering-Kahlbaum AG. Claubergs Karriere endet in Auschwitz: Von 1942 an erprobt er mit dem zuvor ebenfalls bei der Firma Schering tätigen Chemiker Johannes Paul Göbel die Massensterilisierung jüdischer Frauen durch Einspritzen einer chemischen Flüssigkeit in die Gebärmutter.

Von 1936 an ist Butenandt Direktor des KWI für Biochemie in Berlin-Dahlem. An der Institutseinrichtung beteiligt sich die Firma Schering. 1939 bekommt Butenandt den Nobelpreis. Im Januar 1941 hält er die Festrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften über Die Biologische Chemie im Dienste der Volksgesundheit. Er referiert über Keimdrüsenhormone, die sterilen Frauen zur Mutterschaft verhelfen können, und mahnt zugleich: "Selbstverständlich gilt auch bei diesen Maßnahmen die Forderung, daß nur gesundes Erbgut fortgepflanzt werden soll ..."


Butenandt, von 1942 an auch Senator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, steht 1945 zunächst auf einer Fahndungsliste der US-Militärregierung. Die Kaiser-Wilhelm-Institute nennen sich bald Max-Planck-Institute. Butenandt wird 1949 Senator, 1960 Präsident und 1972 Ehrenpräsident der Max-Planck-Gesellschaft. 1960 wird er Ehrenbürger von Bremerhaven, 1985 Ehrenbürger der Landeshauptstadt München.

Fragen bleiben: Warum wusch er Mengele und Verschuer rein? Warum agierte er im Februar 1948 im IG-Farben-Prozess als Entlastungszeuge für Heinrich Hörlein, Giftgasexperte der IG Farben (vor 1945 Senator der Kaiser-Wilhelm-, nach 1945 der Max-Planck-Gesellschaft)? Warum leugnete er, was jeder in seiner Position wusste? Butenandt in dem Prozess auf die Frage, was er über die Konzentrationslager erfahren habe: "Die Namen Auschwitz, Belsen, Buchenwald usw. habe ich erstmalig erst nach dem Krieg vernommen." Von Menschenversuchen an KZ-Häftlingen wollte er "niemals auch nur andeutungsweise gehört" haben.

Butenandt wird auch heute noch gern als unpolitischer Forscher dargestellt.

Sein Schüler und Biograf Peter Karlson weist zu Recht darauf hin, dass man 1936 nicht der NSDAP beitreten konnte, es sei denn, man galt als besonders wichtig. Den Eintritt in die Partei habe Butenandt "abgelehnt und ... auch vermeiden können". Eine von vielen Unwahrheiten: Butenandt ist am 1. Mai 1936 in die NSDAP eingetreten (Mitgliedsnummer 3716562), er war auch im Nationalsozialistischen Lehrerbund. An Karlsons 1990 erschienener Biografie fällt auf, dass er die enge Beziehung zu Verschuer, vor und nach 1945, komplett unterschlägt. Verschuer kommt nicht vor.

Auch in Brandenburg wurden Kinder vergast Butenandt gehörte 1944 auch einem Kreis an, der bis heute nicht bekannt ist: dem Wissenschaftlichen Beirat von SS-Obergruppenführer Karl Brandt (1904 bis 1948), Hitlers Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Brandt ist der mächtigste Mediziner des NS-Staates, verantwortlich für die Euthanasie wie die Menschenversuche in den KZ. In seinem Beirat sind die führenden Ärzte des Regimes vertreten.

Brandts Beirat vereinigt unter anderem Mediziner, die sich an Menschenversuchen beteiligten. Auch Wolfgang Heubner, Fritz Lenz und Verschuer gehören dazu, ebenso Hans Glatzel, ein ehemaliger Assistent des KWI für Anthropologie. (Glatzel sorgt nach 1945 dafür, dass der "Irrentöter" Werner Heyde, der Leiter des weltweit einmaligen Massenmords an Behinderten, unter dem Namen Dr. Sawade in Schleswig-Holstein weiterarbeiten kann. 1959 wird Glatzel Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Ernährungsphysiologie in Dortmund.)

Übrigens beschloss im Juli 1998 die Gesamtkonferenz der Adolf-Butenandt-Schule im niedersächsischen Beverstedt, den Schulnamen zu ändern. Eine große Koalition aus CDU und SPD ignoriert seither den Willen von Lehrern, Eltern und Schülern. Der Landkreis Cuxhaven entschied, den Fall nicht zu behandeln. Eine Aufklärung gilt als unmöglich, da Butenandts Nachlass bis zum Jahr 2025 gesperrt ist (er dürfte gesäubert sein). Aussitzen scheint die Devise.

Der Kölner Genetiker Benno Müller-Hill hat 1984 in seinem Buch Tödliche Wissenschaft erstmals Belege für die Mengele-Verschuer-Butenandt-Verflechtung vorgelegt. 15 Jahre später, im September 1999, bat Müller-Hill den Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, um eine Geste: Menschen, die Mengeles "Zwillingsexperimente" überlebt haben, nach Berlin-Dahlem einzuladen und die Opfer offiziell um Entschuldigung zu bitten.

Die Antwort: nein. Man wolle dem Forschungsprojekt "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" nicht "in dem Sinne vorgreifen, daß eine Verstrickung einer Einrichtung der KWG oder einzelner ihrer Mitarbeiter mit den Untaten des Nationalsozialistischen Regimes ... vorab gesondert an die Öffentlichkeit getragen wird".

1933 hatte Max Planck mehrfach bekannt, dass sich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dem Naziregime voll zur Verfügung stelle.

Institute und Wissenschaftler der KWG standen im Dienst der Kriegführung oder waren in Medizinverbrechen "verstrickt". Die Mitarbeiter des Münchner KWI für Psychiatrie schnitten zum Beispiel ermordeten Kindern in der Anstalt Eglfing-Haar massenhaft die Gehirne heraus.

Der Neuroanatom Julius Hallervorden vom KWI für Hirnforschung in Berlin hatte eine Zweigstelle in der NS-Kindermordzentrale Brandenburg-Görden (Opfer: 1264 Behinderte). Hallervorden bestellt sich Kinder-Forschungsobjekte und fährt am 28. Oktober 1940 in die nahebei gelegene Euthanasieanstalt, wo die kleinen Opfer vergast werden. Heinrich Bunke, Arzt der Vergasungsanstalt: "Ein Teil der Kinderleichen wurde von Professor Hallervorden ... seziert und zur wissenschaftlichen Auswertung mitgenommen." Hallervorden und sein Chef Hugo Spatz hatten auch Kontakt zur Kindermordzentrale in der Kanzlei des Führers.


Beide sind nach 1945 am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Gießen. Es gibt einen Hugo-Spatz-Preis der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.

Auch Hans Nachtsheim vom Dahlemer KWI für Anthropologie und der Butenandt-Assistent Gerhard Ruhenstroth benutzen im Herbst 1943 epileptische Kinder für einen Versuch in einer Unterdruckkammer der Luftwaffe, die zuvor im KZ Dachau eingesetzt war. Ruhenstroth, der seit den sechziger Jahren Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in Planegg-Martinsried war und noch heute auf den Briefbögen des Instituts korrespondiert, hat Benno Müller-Hill vor Jahren per Anwalt belehren wollen, die Versuche hätten therapeutischen Zielen und möglicherweise dem Schutz vor Vernichtung gedient.

Die Kinder seien aus einem Waisenhaus gekommen.

Eine weitere Unwahrheit: Die Kinder kamen aus keinem Waisenhaus. Sie kamen aus der Kindermordzentrale Görden. Wer soll Butenandts Assistenten (NSDAP-Mitglied seit 1938) abnehmen, dass in der Endphase des Nazireiches die kriegswichtige, zur Luftwaffenforschung eingesetzte Unterdruckkammer ausgerechnet zur Therapie epileptischer Kinder eingesetzt wurde? Gördener Kinder waren als lebensunwert deklariert und erwarteten als "Therapie" allenfalls die tödliche Spritze. Die Rettungslegende wird kaum glaubhafter, wenn man weiß, dass Nachtsheim (von 1953 an Direktor des Max-Planck-Instituts für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie in Dahlem) noch 1961 im Wiedergutmachungsausschuss des Bundestags und 1962 im Fachblatt Ärztliche Mitteilungen das nationalsozialistische Sterilisierungsgesetz rechtfertigte, ein neues Gesetz forderte und für die "Ausschaltung der Erbkranken aus der Fortpflanzung" eintrat.

"Neue Forschungsmöglichkeiten" durch das Euthanasieprogramm Die Max-Planck-Gesellschaft will mit ihrem Forschungsprojekt "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" ihre Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten. Dabei hat sie dies bereits getan: 1990 wurde unter dem Titel Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft auf über 1000 Seiten dargestellt. Über die Rassengesetze heißt es da: "Neben dem ,Volksganzen' kam die neue Gesetzgebung aber auch der Wissenschaft zugute. Über die bisherige Grundlagenforschung hinaus wuchsen so dem KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik sowie für Psychiatrie neue Aufgaben in Lehre, Unterricht, Forschung und Gutachterwesen zu." Die Komplizenschaft noch 1990 abzufeiern zeugt von einer erbärmlichen Missachtung der Opfer. Sogar Massenmord wird zum Forschungsereignis: "Die massenhafte Tötung von Geisteskranken öffnete auch der hirnanatomischen Abteilung des KWI für Psychiatrie sowie dem KWI für Hirnforschung neue Forschungsmöglichkeiten."

Verschuer wollte in Mengele einen Lazarettarzt gesehen, KWG-Senator Butenandt von Auschwitz nie gehört haben. Dabei bleibt nach all dem, was man heute weiß, nur der eine Schluss: Das KWI für Anthropologie war eher eine kriminelle Vereinigung als ein seriöses Institut. So hat in der Außenstelle Auschwitz auch KWI-Mitarbeiter Siegfried Liebau Zwillinge fotografiert.

SS-Obersturmbannführer Siegfried Liebau, ein Bekannter Verschuers, war zuvor Personalreferent im Sanitätsamt der SS gewesen (wo er unter anderem Obersturmführer Kurt Borm als Arzt in die Vergasungsanstalt Sonnenstein in Pirna delegiert hatte). Liebaus Spezialgebiet: Behandlung der männlichen Sterilität.

Bis heute unbekannt geblieben ist ein weiterer Mitarbeiter: Obersturmführer Erwin von Helmersen. Er promoviert im August 1943 - und zu diesem Zeitpunkt ist er wohl schon KZ-Arzt in Birkenau - bei KWI-Abteilungsleiter Fritz Lenz.

Nach Ermittlungen der Justiz soll Helmersen zusammen mit Butenandts altem Mitstreiter Carl Clauberg Sterilisierungsversuche unternommen haben. Das Verfahren wurde eingestellt: Helmersen war 1949 in Krakau hingerichtet worden.

27. Januar 2000: 55 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Die Max-Planck-Gesellschaft will keine Opfer von Mengeles Menschenversuchen, will keine "Mengele-Zwillinge" einladen. Beschämend, aber: Wer dort könnte ihnen auch in die Augen sehen?

Sonntag, 5. September 2010

Konsequent asozial

Artikel vom 02.09.2010 auf http://www.nachdenkseiten.de/ von Wolfgang Lieb

Vier von fünf Bundesbürgern halten das „Sparpaket“ für sozial unausgewogen und sie haben Recht. Die Ärmsten der Armen und die Arbeitnehmer werden die Hauptlast der Krise bezahlen. Von einem „fairen Ausgleich“ zwischen Sozialkürzungen und Belastungen „der Wirtschaft“, über den Kanzlerin Merkel gesprochen hat, kann keine Rede sein. Die Gewinner der Finanzspekulationen bleiben ungeschoren, die Verluste tragen die Arbeitslosen und die sozial Schwachen.

Mit dem gestern vom Kabinett beschlossenen „Sparpaket“ hat die schwarz-gelbe Bundesregierung die Befürchtungen noch übertroffen, die man nach der Kabinett-Klausur Anfang Juni hegen musste.

Die Zuschläge beim Übergang vom Arbeitslosengeld I in Hartz IV für Arbeitslose werden gestrichen. Bisher erhielten über 155.000 Haushalte durchschnittlich einen Zuschlag von 110 Euro über 2 Jahre, wenn sie zuvor über lange Zeit erwerbstätig waren.

Die monatliche Pauschale von dürftigen 40,80 Euro, die die Bundesagentur für Arbeitslose an die Rentenversicherung bezahlte wird gestrichen. Dadurch erhöhte sich bisher die Rente der Betroffenen zwar nur um den „stolzen“ Betrag von 2,09 Euro, aber damit fehlt der gesetzlichen Rentenkasse insgesamt jährlich ein Betrag von 1,8 Milliarden, die entweder durch Rentenkürzungen oder durch Erhöhung der Beiträge ausgeglichen werden könnten. Für die Grundsicherung, der dadurch in Armut fallenden Rentner dürfen die Kommunen gerade stehen.

Der Heizungskostenzuschuss beim Wohngeld für Geringverdiener entfällt.

Das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger von 300 Euro im Monat wird gestrichen. Schon bei seiner Einführung ging das Elterngeld zu Lasten der Hartz-IV-Empfänger. Sie bekamen vorher über zwei Jahre hinweg insgesamt 7.200 Euro und danach monatlich 300 Euro für nur noch ein Jahr.

Die Arbeitslosenversicherung soll künftig ohne Zuschüsse vom Bund auskommen. Das zwingt die Bundesagentur für Arbeit zu weiteren drastischen Einschränkungen.

Bis 2014 sollen bei Hartz-IV-Zahlungen zusätzlich 3 Milliarden „eingespart“ werden.

Über ein Drittel der 11 Milliarden pro Jahr oder knapp 30 Milliarden der insgesamt geplanten über 80 Milliarden werden von denjenigen „ausgepresst“, wo eigentlich ohnehin nichts mehr zu holen ist.

Während der Griff in die leeren Taschen feststeht, bleibt es beim „fairen“ Ausgleich durch Belastungen der „Wirtschaft“ bestenfalls bei vagen Ankündigungen.

Die „Luftverkehrssteuer“ zwischen 8 und 45 Euro zum Flugpreis, tragen ohnehin wiederum die Passagiere und zwar alle gleich, ob sie eine Pauschalreise buchen, Economy-Class oder Business- bzw. First-Class fliegen. Frachtflüge werden gar nicht erst besteuert.

Die „Brennelementesteuer“ sollte in den nächsten 4 Jahren (also zeitlich begrenzt) in Höhe von 2,3 Milliarden Euro pro Jahr erbringen, ist mangels Energiekonzept verschoben. Ob sie überhaupt kommen wird (da vermutlich der Bundesrat zustimmen müsste) oder welchen „Preis“ die Energiemonopolisten mit der Bundesregierung für die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken „aushandeln“, ist völlig offen.

Die „Finanztransaktionssteuer“, die ab 2010 bis 2014 mit jeweils 2 Milliarden Euro (insgesamt also 6 Milliarden Euro) eingeplant ist, ist selbst nach Aussagen Schäubles „wirklich noch nicht in trockenen Tüchern“.

Die Kappung der Ausnahmen von der Ökosteuer für stromintensive Betriebe – eigentlich müsste man genauer von einer Kappung der bisherigen Steuersubventionen in einem Volumen von 8 bis 9 Milliarden sprechen -, die zwischen 1,1 bis 1,5 Milliarden erbringen soll, ist schon jetzt verwässert, und der Finanzminister hat noch weitere Kompromissbereitschaft angekündigt: Man könne „sachlich begründete Einwände nicht wegschieben“. (Sachlich begründete Einwände gelten natürlich bei den Sozialkürzungen nicht.)

Die Bundeswehr ist die kommenden zwei Jahre von Kürzungen ohnehin ausgenommen. Ob die angekündigten 1 bis 3 Milliarden ab 2013 Einsparungen jemals erzielt werden, steht in den Sternen. Alle bisherigen „Reformvorschläge“ zu Guttenbergs erbringen die angekündigten Summen nicht.

Während also bei Arbeitslosen, Niedrigverdienern und Flugpassagieren sofort zugepackt wird, bleibt es – wie vorhersehbar – überall sonst bei Luftbuchungen.

Die Steuergeschenke für Hoteliers, die Steuerbefreiung für die Veräußerung von Betrieben oder Betriebsanteilen, die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge (von 42 auf 25 % gesenkt) oder die Spitzensteuersätze bleiben unangetastet. An eine Wiedereinführung einer Vermögensteuer oder einer Anhebung der Erbschaftssteuer wenigstens auf mittleres internationales Niveau wird gar nicht erst gedacht.

Die Krisenverursacher und Krisengewinnler werden erst gar nicht herangezogen.

Über 80 Milliarden soll das „Sparpaket“ bringen, schon bis Ende 2009 sind die staatlichen Kosten für die Stützung der Finanzinstitute laut Bundesbank auf 98 Milliarden aufgelaufen. Den Löwenanteil dieser Schulden bezahlen die sozial Benachteiligten.

Das nenne ich konsequent asozial!

Montag, 26. Juli 2010

Geheimes Dossier

Was israelische Agenten einst nach Argentinien trieb, war nicht nur die Suche nach dem NS-Verbrecher, ­sondern auch die verdeckte Kooperation zum Bau der Atombombe

Artikel im "der Freitag" von Gaby Weber (20.06.2010)


Wie bin ich an das Thema gekommen? Seit Mitte der achtziger Jahre lebe ich in Südamerika, einem Kontinent, der gerade die Militärdiktaturen überwunden hatte. Ich stieß darauf, dass bei Mercedes-Benz Argentina (MBA) zwischen 1976 und 1983 14 Betriebsräte ermordet worden waren. Die MBA-Manager hatten zudem bei der Ausstattung der Folterkammern geholfen. Grund genug, mich um die Anfänge dieses Unternehmens zu kümmern. MBA war 1951, während der Regierung von General Perón gegründet worden. Perón hatte Tausenden Nazis Unterschlupf gewährt, von denen viele für deutsche Unternehmen arbeiteten, die so ihr während des III. Reiches verstecktes Geld wuschen.
Über seine argentinische Niederlassung pumpte Daimler-Benz mittels fingierter Exportrechnungen Kapital in den Kreislauf der deutschen Nachkriegswirtschaft. Minister Ludwig Erhard reiste persönlich zur Einweihung der Mercedes-Fabrik an. Deutsche gründeten zudem in Córdoba ein Flugzeugwerk, in Bariloche ein Atomzentrum und erprobten neue Raketen und Sprengstoffe. Sie machten dort weiter, wo sie 1945 aufgehört hatten – fernab des alliierten Verbots, auf deutschem Boden ABC-Waffen zu entwickeln. Der Militärputsch gegen Perón (1955) beendete die Geldwäsche, Mercedes-Benz wurde beschlagnahmt. Doch nach zwei Gerichtsurteilen eröffnete das Unternehmen drei Jahre später wieder seine Pforten. Das beschlagnahmte Firmenarchiv – darunter die komplette schwarze Buchführung – fand ich in einem feuchten Kellerverlies.


Unerhört!

MBA hatte Adolf Eichmann 1959 unter dem Namen Ricardo Klement angestellt. Man kannte seine Vergangenheit, seine Kinder gingen unter dem Namen Eichmann auf die Deutsche Schule. Warum auch sich verstecken? Argentinien lieferte die „Politischen“ nicht aus, Interpol verweigerte die Mithilfe und vor allem: Damals verjährte Mord nach 20 Jahren. Die Nazis sahen sich als Regierung im Wartestand, die spätestens 1965 ihr Exil verlassen und zurückkehren wollten.


Die Organisation Gehlen und der aus ihr hervorgegangene Bundesnachrichtendienst (BND) hielten enge Kontakte zu den Abgetauchten. Schließlich waren in den Pullacher Amtsstuben ebenfalls frühere Abwehrleute und SS-Mitglieder „versorgt“ worden. Bei meinen Recherchen darüber halfen mir im US-Bundesarchiv Washington (NARA) die Interagency Working Group on Nazi Crimes und Historiker, die dank ihres Security Certificate Zugang zu sensiblen Dokumentensammlungen durchgesetzt hatten – für ihre deutschen Kollegen undenkbar. Als ich hingegen auf Einladung der Berliner Gesellschaft für Faschismus und Weltkriegsforschung meine Eichmann-Forschungen darlegte und um Hilfe bei der Öffnung deutscher Archive bat, erntete ich Unverständnis. War zu Eichmann nicht alles gesagt? Und nun kommt eine Journalistin aus Argentinien, von der die offizielle Geschichtsschreibung als Desinformation brandmarkt wird?

Unerhört!

Bei NARA hatte ich 2006 einen CIA-Vermerk gefunden, wonach der BND im März 1958 dem US-Geheimdienst Eichmanns Aufenthaltsort und Decknamen mitteilte. Gegen den Kriegsverbrecher bestand Haftbefehl der Frankfurter Staatsanwaltschaft. Der aber wurde vom BND vorenthalten, wo sich der geflüchtete Massenmörder aufhielt.
Eichmanns hatte als Kader des Sicherheitsdienstes (SD) im Januar 1942 bei der Wannsee-Konferenz Protokoll geführt und danach für den Abtransport der Juden in die Vernichtungslager gesorgt. Wenig weiß man über seine Umtriebe in Südamerika. Und noch weniger bekannt ist jene heikle Kooperation Israels, Argentiniens und des jungen Bonner Staates bei der Nuklearforschung. Es verband sie ein gemeinsames Interesse: Tel Aviv wollte die Atombombe – und Adenauer hatte ebenfalls Interesse an einer atomaren Option. 1960 stellte sein Kabinett dem israelischen Chaim-Weizmann-Institut drei Millionen Mark für die gemeinsame Nuklearforschung zur Verfügung. Und wo ein Haushaltsposten ist, muss es Unterlagen über den Mittelabfluss geben. Die wollte ich finden, suchte zunächst in Argentinien und wurde bei der Atomkommission fündig. Man bestätigte drei Uran-Lieferungen an Israel, im Staatsarchiv fand ich die Exportgenehmigungen: 1960, 1962 und 1963 weitere hundert Tonnen. Das reichte für mehrere Atombomben. Die US-Regierung wusste von diesen Lieferungen, teilte mir das Department of Energy mit. Meine Ausbeute im Koblenzer Bundesarchiv war dagegen eher bescheiden. Das Ganze war Chefsache, und die dort aufbewahrten Kanzleramts-Akten offenbarten nur Fragmente. Ich fragte 2007 erstmals im Bundeskanzleramt nach, wo man sich aufgeschlossen gab und mir versicherte, es würden keine Akten zu einem Nazi-Kriegsverbrecher zurückgehalten. Doch zu meinem Auskunftsbegehren – Eichmann in Argentinien und nukleare Zusammenarbeit – wollte man nichts gefunden haben. Lediglich eine Geheimakte tauchte auf, die – nach vielen Monaten – freigegeben wurde: Unterlagen des Krisenstabes, der nach der Verhaftung Eichmanns in Israel 1960 einberufen worden war. Adenauer fürchtete Kritik aus dem Ausland, da in seiner Regierung ehemalige Amtsträger des NS-Regimes saßen. Staatssekretär Globke – als Ko-Autor der Nürnberger Rassengesetze ein Kenner der Materie – leitete den Krisenstab.
 
Ewige Geheimhaltung

Blieb also Pullach übrig. Ich erwartete mit den üblichen Floskeln abgespeist zu werden. Denn im Gegensatz zu den USA, wo dank des Freedom of Information Act sensible Daten heraus geklagt werden können, klammert das deutsche Informationsfreiheitsgesetz die Geheimdienste aus. Um so größer war mein Erstaunen, als mir der BND mitteilte, er habe die von mir gewünschten Akten gefunden: 4.500 Blatt zu Eichmann in Argentinien und zu „nuklearer Zusammenarbeit der Bundesrepublik, Argentiniens und Israels”. Dieses Material sei aber für immer geheim. Man müsse die Persönlichkeitsrechte seiner Agenten schützen.
Ich reichte Klage ein. Laut Bundesarchivgesetz müssen die Behörden nach 30 Jahren ihre Akten an das Bundesarchiv überstellen. Der BND tut dies fast nie und behauptet, die Dokumente weiter bei sich zu benötigen. So verlängert er sich selbst die Fristen und gibt Papiere nicht nach Koblenz ab, wo sie Forschern auffallen könnten.
Der BND bat die dienstführende Behörde um eine Sperrerklärung. Hatte das Kanzleramt Monate zuvor vollmundig die Offenlegung der Eichmann-Akten versprochen, sah es nunmehr die Republik gefährdet. Das Material, das der BND inzwischen auf 3.400 Blatt herunter gerechnet hatte, stamme von einem Nachrichtendienst aus Nahost, sprich Mossad. Und der lege Wert auf ewige Geheimhaltung. Beweise dafür legte das Amt nicht vor. Im Anti-Terror-Kampf sei die Kooperation mit anderen Sicherheitsbehörden lebenswichtig.
Ende April 2010 urteilte nun der Geheimschutzsenat des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Sperrerklärung „rechtswidrig” war. Ihm waren die ungeschwärzten 3.400 Blatt vorgelegt worden. Sie seien von „zeitgeschichtlichem Interesse“, so die Richter, „sie beziehen sich nicht auf Umstände, die bislang geheim gehalten worden seien, sondern auf die NS-Gewaltherrschaft, die systematische Verfolgung der europäischen Juden und die Rolle verschiedener Mitglieder des NS-Regimes, namentlich Adolf Eichmann, sowie mit diesen Personen im Zusammenhang stehenden Vorgänge der Nachkriegszeit“. Eine Hintertür ließen die Richter offen: Es könne eine neue Sperrerklärung geben, die nicht pauschal, sondern konkret die Gefahren der Freigabe benennen müsse. Wird Angela Merkel die Akten oder Teile weiter blockieren? Dann riskiert sie ein neues Urteil. Elan Steinberg¸ Sprecher der Holocaust-Überlebenden in den USA, hält es für „unzumutbar und schamlos, wenn über ein halbes Jahrhundert Akten über den Architekten der Endlösung geheimgehalten” werden.

Mittwoch, 9. Juni 2010

Otto Bickenbach (11.03.1901 - 26.11.1971)

  • deutscher Internist und Professor an der Reichsuniversität Straßburg
  • ab 1. Mai 1933: NSDAP und SA-Mitglied
  • ab April 1934: stellv. Direktor der Medizinischen Klinik der Universität Freiburg ("im Stile eines Säuberungskommissars")
  • 1938: Habilitation
  • 1939: Utropin-Experimente bei Phosgenvergiftungen (vermeintliches Gegenmittel)
  • 1939: NS-Dozentenbund
  • ab 24. November 1941: außerordentlicher Professor an der Reichsuniversität Straßburg und Direktor der Medizinischen Poliklinik
  • Juni 1943: KZ Natzweihler-Struthof; er wählt aus den Häftlingen die Versuchspersonen für seine Phosgen-Experimente aus
  • Assistent war Helmut Rühl
  • "Behandlung" (Gaskammer) von etwa 150 Personen in Serien von jeweils 30 Häftlingen; von jeder Gruppe starben sieben, acht Häftlinge; die Überlebenden wurden, soweit transportfähig, nach Auschwitz, Bergen-Belsen oder Lublin verbracht [1],[2]

  • Juni - August 1944: erneute Versuchsreihe mit mehr als 50 Häftlingen, welche für medizinische Versuche aus Auschwitz nach Natzweiler-Struthof transportiert und im Laufe dieser Versuche ermordet wurden; als offizielle Todesursachen wurden Lungenentzündung sowie Herz- und Körperschwäche angegeben


Hierzu die Aussagen dreier Überlebender der Giftgas-Experimente:

Franz Hauer (damals 21 Jahre alt):
 "Ich bekam in einem Emaillebecher eine Flüssigkeit zu trinken, die aussah wie klares Wasser, aber süßlich schmeckte." Der Professor habe ihnen vor dem Eintritt in die Gaskammer gesagt, sie sollten tief einatmen. Danach habe er mehrere Ampullen in den Raum geworfen und die Tür blitzschnell verschlossen. Nach dem Versuch seien sie ins Krematorium gebracht worden. Etwa 5 bis 6 Häftlinge seien gestorben: "Verschiedene Häftlinge spuckten aufgrund ihrer Lungenerkrankungen Blut in einen Eimer. Nach meiner Erinnerung starben sie meistens nachts." (Aussage vom 29. Mai 1981, ZSt 419 AR-Z 90/80)
Willy Herzberg (damals 23 Jahre alt):
"Sie hatten braunen Schaum vor dem Mund stehen, der auch aus den Ohren und den Nasenlöchern kam. Nachdem wir in die Gaskammer geführt worden waren, stand der Professor im Eingang und hatte zwei Glasampullen, die aussahen wie Dr. Oetkers Aromafläschchen. Der Professor ermunterte uns nochmals, uns forsch zu bewegen, fest einzuatmen. Dann schmiß er die beiden Fläschchen gegen die Wand und schmiß sofort die Türe zu." Die Tür sei kaum zu gewesen, da habe der Professor schon gefragt, ob die Ampullen zerbrochen seien: " Ca. 10 Minuten nach Versuchsbeginn hörte ich ein dumpfes Klatschen, so wie man beide Hände hohl aufeinander schlägt. Dieses Geräusch kam von den zerplatzenden Lungen der beiden Häftlinge, die danach umfielen und den von mir bereits beschriebenen Schaum vor Mund, Nase und Ohren hatten." (Aussage vom 01. Juli 1981, ZSt 419 AR-Z 90/80)
Rudolf Guttenberger (damals 23 Jahre alt):
"Für den Transport nach Natzweiler wurden 100 kräftige Zigeuner ausgesucht. An die Zahl Hundert kann ich mich genau erinnern."
"Wir hatten lange Fieber, acht Tage. Danach wurden wir geimpft. Dann ging das Fieber. Daran starb ein Häftling."
Drei Tage nach einem erneuten Versuch stirbt sein Cousin Albert Eckstein: "Eckstein hat während dieser drei Tage schrecklich gelitten. Er hustete rosarotes Blut, je länger es dauerte, kamen Lungenfetzen aus dem Mund." (Aussagen vom 04. Juni 1981, ZSt 419 AR-Z 90/80)
  • 17. März 1947: Verhaftung und französische Untersuchungshaft
  • nach eigener Aussage Bickenbachs habe er nur "mit Rücksicht auf Himmlers Befehl" gehandelt, gebe aber zu, daß derlei Experimente "der ärztlichen Ethik zuwiderlaufen".[3]
  • 24. Dezember 1952: Verurteilung zu lebenslanger Zwangsarbeit durch ein Militärgericht in Metz wegen "Verbrechens der Anwendung gesundheitsschädlicher Substanzen und Giftmord"
  • Januar 1954: Aufhebung des Urteils durch ein Pariser Militägericht
  • Mai 1954: erneute Verhandlung vor einem Militägericht in Lyon: 20 Jahre Zwangsarbeit
  • 1955: Begnadigung im Rahmen einer Amnestie
  • 1962: Bickenbach beantragt die Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens um rehabilitiert zu werden; die Verhandlung dauert nur einen Tag
  • der Richter vertritt die Ansicht, "Bickenbach habe sich entschieden geweigert, teilzunehmen, aber schließlich teilgenommen, um möglichst viele Häftlinge zu retten."
  • Akten des Ahnenerbe (Bundesarchiv) sowie Protokolle der Hauptverhandlung im Nürnberger Ärzteprozeß wurden vom Gericht nicht verwertet
  • in den Akten werden u.a. als Zeugen "der untadeligen Haltung Bickenbachs" Dr. Hans Stempel aus Speyer, Kirchenpräsident der pfälzischen Kirche, Vorstandsmitglied der Stillen Hilfe, einer Nazitäter-Hilfsorganisation sowie Dr. Helmut Rühl, Bickenbachs Assistent im KZ Natzweiler-Struthof, angeführt
  • 10. Februar 1966: Rehabilitierung durch das Berufsgericht für Heilberufe in Köln
Das abschließende Urteil:
"Ihm ist weder ein strafrechtlich relevantes Verhalten noch ein Verstoß gegen die ärztlichen Berufspflichten vorzuwerfen. Er habe seine ärztlichen Berufspflichten getreu dem hippkratischen Eid nicht verletzt. Es wird festgestellt, daß der Antragsteller durch die Beteiligung an diesen Versuchen seine ärztlichen Berufspflichten nicht verletzt hat."[4]
  •  später Internist in Siegburg

Quellen:

1: Protokoll des Nürnberger Ärzteprozesses, S. 1093f.
2. Aussage Ferdinand Holl (Revierkapo im KZ Natzweiler-Struthof) im Nürnberger Ärzteprozeß
3. Aussage Otto Bickenbach im Nürnberger Ärzteprozeß, Dokument 3848 Seite 7
4: Urteil des Berufsgerichts für Heilberufe beim VG Köln vom 10. Februar 1966 (1T 15/62)

"Die Zeit" Ausgabe 49/1997 "Deutscher Menschenverbrauch"
"Der Spiegel" Ausgabe 46/1983 "Ungezügelte Bosheit"

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma e.V.: Sinti und Roma im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof
Ernst Klee: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer
Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich

Donnerstag, 3. Juni 2010

Dr. Arnold Dohmen (02.08.1906 - 1980)

  • deutscher Internist, Bakteriologe und Stabsarzt der Heeressanitätsinspektion
  • war Mitglied der NSDAP und SA-Führer
  • ab 1942: Studien zur Hepatitis epidemica für die Militärärztliche Akademie
  • Frühjahr 1943: Bitte Dohmens an den Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt, die Erkenntnisse der Hepatitis-Tierversuche auf den Menschen übertragen zu dürfen
  • Anfang Juni 1943: nochmalige Bitte an Reichsarzt SS Ernst-Robert Grawitz
  • 16. Juni 1943: Heinrich Himmler genehmigt 8 zum Tode verurteilte Juden der polnischen Widerstandsbewegung
  • 23. Juni 1943: 4-tägige Dienstreise Dohmens nach Auschwitz - Selektion der jüdischen Häftlinge an der berüchtigten Judenrampe für die geplanten Hepatitisversuche
  • August 1943: die Versuchsobjekte werden von Auschwitz nach Sachsenhausen überstellt; es sind allerdings nicht 8, sondern 11 jüdische Kinder & Jugendliche im Alter von 9 - 19 Jahren - zum Tode verurteilte Widerstandskämpfer?
  • September 1944: strenge Isolierung der jüdischen Kinder - Beginn der Versuche
  • es werden z.B. Blutbilder und Harnanalysen erstellt
  • den Opfern werden Bakterienkulturen in den Darmtrakt und in die Adern injiziert
  • weiterhin werden von Dohmen extrem schmerzhafte und lebensgefährliche (ohne Narkose) Leberpunktionen vorgenommen
  • Ziel dieser pseudomedizinischen Menschenversuche sollte die Erforschung und Entwicklung eines wirksamen Impfstoffes sein
  • die Kinder konnten nur durch die Hilfe von Häftlingspflegern gerettet werden, da diese vorgaben, das die jüdischen Kinder für mögliche weitere Versuche benötigt werden könnten
  • nach Kriegsende: Dohmen lässt sich im Landkreis Detmold als Facharzt für Innere Krankheiten nieder und stieg später bis zum Chefarzt der Uni-Klini Münster auf
  • 27. Februar 1975: ein Ermittlungsverfahren gegen Dohmen wird eingestellt, da er zum einen behauptet, an der Selektion der Kinder in Auschwitz nicht beteiligt gewesen zu sein und zum anderen, die Versuche habe er nur zum Schein durchgeführt
  • die zuständige Staatsanwalt hielt diese Version für nicht widerlegbar
Dazu zwei Aussagen von Bruno Meyer (Blockältester der [Kranken-]Revierbaracke R II:
  • Ohne Gruß betrat er den Raum, sah die Kinder kaum an... Einmal bringt Dr. Dohmen in Papier verpackte Ampullen mit. Er führt zwei Kindern Duodenalsonden ein. Durch die dünnen Gummischläuche (zu Untersuchung von Magen- und Darmsaft) drückt Dohmen mit einigem Kraftaufwand eine gallertartige Masse in den Darmtrakt. Beim zweiten Versuch wird ein Teil der Masse auf den Boden geschüttet. Nicht Hineintreten! ruft er aufgeregt, streckt seine Hände abwehrend aus. Für mich beseitigte dieser Zwischenfall die letzten Zweifel darüber, daß Dr. Dohmen diesen völlig gesunden jüdischen Kindern Bakterienkulturen in den Darm praktizierte.
  • Dr. Dohmen entnahm seiner Instrumententasche nun eine schräg angeschliffene Röhrensonde, trat hinter Saul Hornfeld, tastete mit den Fingern seinen Rücken ab, setzte dann die Sonde an und stach sie tief durch die Rückenmuskulatur in die Körperhöhle des Kindes. Saul Hornfeld biß vor Schmerz auf seine kleinen Fäuste. Ich trat schnell vor ihn und beschwor ihn mit gepreßter Stimme, tapfer zu bleiben. Tränenblind schaute er mich an, ohne mich zu sehen. Über seine blutleeren Wangen strömten die Tränen. Da stach der Arzt zum zweiten Male zu. Ich warf einen bangen, fragenden Blick zu Häftlingsarzt Dr. Oftedal. Leberpunktion, flüsterte der mir zu. Dann sah ich, wie Dr. Dohmen aus der Sondenröhre eine lange Nadel zog und schnell ein Reagenzglas unter die Sondenöffnung hielt. Schweres, dunkles Blut tropfte in das Glas. Auch einige Stückchen Gewebe - wohl aus der Leber gerissen - schwemmten mit hinein. Jetzt zog der Stabsarzt die Sonde wieder aus dem Rücken des Jungen, warf sie in eine Nierenschale und drückte schnell einen Tupfer auf die Wunde. Dann klebte er ein oder zwei breite Streifen Heftpflaster darüber. Dr. Oftedal und ich hoben Saul Hornfeld vom Verbandstisch und ich brachte ihn zurück zu seinen Leidensgefährten und ins Bett. Da lag dieser kleine Mensch auf dem Strohsack, das Gesicht zur Bretterwand gekehrt und weinte leise vor sich hin.



Rezensionsnotiz Frankfurter Rundschau, 11.01.2006

"Wirklicher als die Wirklichkeit" findet Dagmar Pöpping die Erinnerungen von Saul Oren-Hornfeld, der darin die Zeit seiner Inhaftierung im KZ Sachsenhausen beschreibt. Oren-Hornfeld wurde vom Hepatitisforscher Arnold Dohmen in Sachsenhausen zu Experimenten benutzt. Pöpping verspürt beim Autor, der die Shoa mit religiösen Bildern als "symbolisches Geschehen" deutet, das Bedürfnis, dass die an ihm vergangenen Verbechen endlich gesühnt werden. Er beabsichtige, dass die Leser seine "Ohnmacht" spüren gegenüber der ausbleibenden Verurteilung der NS-Tätergeneration - Arnold Dohmen ist nach dem Krieg von einem deutschen Gericht freigesprochen worden.

Das Schicksal der Kinder wurde in dem Dokumentarfilm "Jedesmal mußte ein Wunder sein – Die Kinder von Sachsenhausen" verarbeitet.

Quellen:

Ernst Klee: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer.
Bruno Meyer: Der Krankenbau - Versuchs- und Mordstätte, in: Der Appell. Mitteilungsblatt für die ehemaligen Häftlinge und deren Angehörige der Konzentrationslager Sachsenhausen/Oranienburg. Nr.9/Februar 1987
Carola Sachse: Die Verbindung nach Auschwitz - Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten
Saul Oren-Hornfeld: Wie brennend Feuer. Ein Opfer medizinischer Experimente im Konzentrationslager Sachsenhausen erzählt

"Berliner Zeitung" vom 2. Dezember 1996: "Arzt mißbrauchte Kinder für Versuche"

Wie jeder erkennen MUSS, reichten Opfer- sowie Zeugenaussagen nicht aus, um einen gewissenlosen NS-Täter anzuklagen und zu verurteilen. Unser (armes) Märchenland!